vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit

Arbeitsvertrag
Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht? - Mögliche Reaktionen des Arbeitgebers:
  1. Nachweispflicht verschärfen
  2. Entgeltfortzahlung verweigern
  3. Gutachten vom MDK einholen
  4. Privatdetektiv einschalten
  5. Entgeltfortzahlung zurückverlangen
  6. Kündigen
Im Einzelnen:

1. Nachweispflicht verschärfen
Wenn der Arbeitgeber den Verdacht hat, dass ein Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit nur vortäuscht, oder wenn er das Risiko von vornherein eingrenzen möchte, kann er die gesetzliche Nachweispflicht verschärfen.
Wer krank ist, muss zunächst den Arbeitgeber unverzüglich darüber informieren, § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG. Unverzüglich bedeutet: So schnell wie möglich. Das erfordert im Regelfall eine telefonische Nachricht zu Beginn der betrieblichen Arbeitszeit. Nur wenn der Arbeitnehmer schon vorher absehen kann, dass er am nächsten Arbeitstag arbeitsunfähig sein wird, muss er sich schon früher melden.
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der AU sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ist der Arbeitgeber berechtigt, die AU-Bescheinigung früher zu verlangen, etwa schon am ersten Tag der Krankheit. Er darf sie auch für Zeiten verlangen, die nicht länger als drei Tage andauern, z.B. auch für eine eintägige AU. Dafür braucht der Arbeitgeber keinen besonderen Grund, insb. keinen Verdacht (BAG, Urteil vom 14.11.2012, 5 AZR 886/11). Die Verpflichtung kann im Arbeitsvertrag stehen oder im laufenden Arbeitsverhältnis eingeführt werden, für die soeben gemeldete AU oder für die Zukunft. Falls vorhanden, ist der Betriebsrat zu beteiligen, sofern es nicht um einen Einzelfall geht (BAG, Beschluss vom 23.08.2016, 1 ABR 43/14).

Ab 1. Juli 2022 muss der Arbeitnehmer zwar immer noch den Arbeitgeber rechtzeitig informieren und zum Arzt. Er muss aber im Regelfall nicht mehr die AU-Bescheinigung an den Arbeitgeber schicken. § 5 EFZG hat nämlich ab 1. Juli 2022 folgenden neuen Absatz 1a:
"Absatz 1 Satz 2 bis 5 gilt nicht für Arbeitnehmer, die Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse sind. Diese sind verpflichtet, zu den in Absatz 1 Satz 2 bis 4 genannten Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich eine ärztliche Bescheinigung nach Absatz 1 Satz 2 oder 4 aushändigen zu lassen. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht
1. für Personen, die eine geringfügige Beschäftigung in Privathaushalten ausüben (§ 8a SGB IV), und
2. in Fällen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt, der nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt."
Letzteres sind z.B. im Ausland ansässige Ärzte.
§ 109 SGB IV sieht dann vor, dass die Krankenkasse nach Eingang einer AU-Meldung durch den Arzt dem Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung in elektronischer Form zum Abruf bereitstellt. Über diesen Weg erhält der Arbeitgeber also den Nachweis. Der Arbeitnehmer bekommt vom Arzt weiterhin eine AU-Bescheinigung. Diese dient ihm als Sicherheit, etwa für den Fall, dass die Übermittlung im elektronischen Verfahren fehlschlägt und er das Vorliegen der AU als Voraussetzung der Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG außergerichtlich oder vor Gericht nachweisen muss.
Die elektronische AU-Bescheiniguung sollte ursprünglich zum 1. Januar 2022 eingeführt werden. Der Start wurde jedoch um ein halbes Jahr verschoben.

2. Entgeltfortzahlung verweigern
Wenn der Arbeitnehmer Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG einklagt, muss er darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig ist/war. Dazu dient die AU-Bescheinigung vom Arzt. Sie ist der gesetzlich vorgesehene und damit wichtigste Beweis für die AU. Der Arbeitgeber kann versuchen, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern. Dazu muss er Umstände darlegen und beweisen, die Anlass geben zu ernsthaften Zweifeln. Beispiele:
  • Verhalten vor der AU: Der Arbeitnehmer hat die AU angekündigt, z.B. nach Ablehnung des Urlaubs.
  • Verhalten während der AU: Der Arbeitnehmer hat Tätigkeiten ausgeführt, die mit seinem Job vergleichbar sind.
  • Umstände der AU-Bescheinigung: Rückdatierung um mehr als drei Tage; Folgebescheinigung vom gleichen Tag wie Erstbescheinigung; Erstbescheinigung am Tag der Eigenkündigung und Dauer der AU passgenau zur Dauer der Kündigungsfrist (vgl. dazu BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21).
Dann muss der Arbeitnehmer seine AU auf anderem Weg beweisen, z.B. durch Aussage des behandelnden Arztes nach Entbindung von der Schweigepflicht oder Aussage anderer Zeugen (Ehepartner, Verwandte), Sachverständigengutachten. Der Arzt ist dann im Einzelnen nach Diagnose, Krankheitsverlauf und Auswirkungen am konkreten Arbeitsplatz zu befragen. Er ist auch mit den Umständen zu konfrontieren, die den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert haben, und zu fragen, ob er den Arbeitnehmer auch bei Kenntnis der Umstände krankgeschrieben hätte.

3. Gutachten vom MDK einholen
Wenn eine AU-Bescheinigung vorgelegt wurde, kann der Arbeitgeber bei einem gesetzlich versicherten Arbeitnehmer die Krankenkasse bitten, ein Gutachten vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einzuholen.
Die Krankenkasse ist nach § 275 SGB V verpflichtet, das Gutachten vom MDK einzuholen, wenn Zweifel an der AU bestehen. Sie kann das ablehnen, wenn sich die medizinischen Voraussetzungen der AU eindeutig aus ihren Unterlagen ergeben. Zweifel an der AU bestehen insb., wenn
  • ein Arbeitnehmer auffällig häufig krank ist oder
  • auffällig häufig Kurzerkrankungen vorliegen oder
  • das Wochenende durch Krankheit verlängert wird oder
  • die AU von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten AU-Bescheinigungen auffällig geworden ist.
Weitere Beispiele:
  • Dauer der AU passt nicht zur Diagnose,
  • Krankheit gehört nicht zum Fachgebiet des Arztes,
  • Folgebescheinigung von einem anderen Arzt als Erstbescheinigung.
Der MDK untersucht den Arbeitnehmer und stellt fest, ob und wie lange die AU vorlag. Dieses Ergebnis teilt der MDK der Krankenkasse und dem Arzt mit, § 277 SGB V. Die Krankenkasse teilt dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber (solange ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht) das Ergebnis des MDK mit, wenn es nicht mit der AU-Bescheinigung übereinstimmt. Die Mitteilung darf keine Angaben über die Krankheit des Arbeitnehmers enthalten.
Wenn der Arbeitgeber von der Möglichkeit, den MDK zu beauftragen, keinen Gebrauch macht, kann er sich zwar auf andere Beweismittel stützen. Er hat aber das Risiko zu tragen, dass ausreichende Anhaltspunkte für ernsthafte Zweifel an der AU fehlen.
Erscheint der Arbeitnehmer nicht zur Untersuchung durch den MDK, kann das Gericht davon ausgehen, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert ist.
Bestätigt der MDK die AU, kann der Arbeitnehmer das Gutachten als Beweismittel anführen (LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 06.07.2016, 9 Sa 20/16).

4. Privatdetektiv einschalten
Um Beweise zu sammeln, kann der Arbeitgeber unter Umständen einen Privatdetektiv einschalten.
Aber: Ist die Überwachung mit Bildaufnahmen und Videoaufzeichnungen nicht gerechtfertigt, stellt dies eine schwerwiegende Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, so dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Entschädigung in Geld schuldet (§ 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG). Vgl. BAG, Urteil vom 19.02.2015, 8 AZR 1007/13; BAG, Urteil vom 29.06.2017, 2 AZR 597/16.
Ob der Einsatz des Detektivs gerechtfertigt war, beurteilt das BAG nach § 32 BDSG a.F. / § 26 BDSG n.F. Das setzt voraus: Der konkrete Verdacht des Arbeitgebers muss auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, die zu dokumentieren sind. Der Einsatz des Detektivs muss zur Aufklärung erforderlich sein. Interessen des Arbeitnehmers dürfen nicht überwiegen, d.h. Art und Ausmaß der Überwachung dürfen im Hinblick auf den Anlass nicht unverhältnismäßig sein.
Die Kosten für den Detektiv kann der Arbeitgeber grundsätzlich vom Arbeitnehmer verlangen, wenn ein konkreter Verdacht bestand und der Arbeitnehmer tatsächlich einer vorsätzlichen Pflichtverletzung überführt wurde, sofern ein vernünftiger, wirtschaftlich denkender Arbeitgeber die Maßnahme für erforderlich gehalten hätte. Bei Zweifeln an der AU kann der Arbeitgeber aber den MDK einschalten. Dieser Weg ist einfacher, kostengünstiger und kompetenter als die kostenintensive und im Ergebnis stets interpretationsbedürftige Beauftragung einer Detektei (BAG, Urteil vom 28.05.2009, 8 AZR 226/08).

5. Entgeltfortzahlung zurückverlangen
Wenn der Arbeitgeber die bereits gezahlte Entgeltfortzahlung zurückhaben will, kann er nach Bereicherungsrecht vorgehen (§§ 812 ff BGB, wobei sich der Arbeitnehmer nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen kann) oder Schadensersatz verlangen (§ 280 Abs. 1 BGB wegen Verletzung vertraglicher Pflichten und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB wegen Betruges).
Dabei muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, an welchen Tagen der Arbeitnehmer trotz Krankmeldung gesund war, d.h. er muss den Richter davon überzeugen, dass der Arbeitnehmer gesund war. Es genügt nicht, Zweifel an der Krankheit zu wecken.
Der Arbeitgeber muss zunächst vortragen, dass der Arbeitnehmer unentschuldigt gefehlt hat. Dann muss der Arbeitnehmer im Einzelnen vortragen, warum sein Fehlen entschuldigt war. Nur diese vom Arbeitnehmer behaupteten Tatsachen muss der Arbeitgeber widerlegen.
Kann der Arbeitnehmer kein ärztliches Attest vorweisen, muss er substantiiert darlegen, woran er erkrankt war und weshalb er deswegen nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Andernfalls gilt die Behauptung des Arbeitgebers, er habe unentschuldigt gefehlt, als zugestanden. Trägt der Arbeitnehmer aber Einzelheiten vor (Symptome, Aufenthaltsort), muss der Arbeitgeber die Erkrankung widerlegen.
Legt der Arbeitnehmer ein ärztliches Attest vor, muss der Arbeitgeber zunächst die Beweiskraft erschüttern. Gelingt dies, muss der Arbeitnehmer weiter substantiieren, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben, welche Verhaltensmaßregeln der Arzt gegeben hat, welche Medikamente z.B. bewirkt haben, dass der Arbeitnehmer zwar immer noch nicht die geschuldete Arbeit bei seinem Arbeitgeber verrichten konnte, aber zu bestimmten anderen Tätigkeiten in der Lage war. Erst wenn der Arbeitnehmer das gemacht und ggf. seinen Arzt von der Schweigepflicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber den konkreten Vortrag des Arbeitnehmers widerlegen, z.B. durch Vernehmung des behandelnden Arztes und ggf. Gutachten eines Sachverständigen. Es ist auch stets zu prüfen, ob die Umstände, die den Beweiswert des ärztlichen Attests erschüttern, nicht als so gravierend anzusehen sind, dass sie ein starkes Indiz für die Behauptung des Arbeitgebers darstellen, die Krankheit sei nur vorgetäuscht gewesen, so dass der Arbeitnehmer dieses Indiz entkräften muss.
Grundlegend: BAG, Urteil vom 26.08.1993, 2 AZR 154/93.

6. Kündigen
Schließlich kommt noch eine Kündigung in Betracht. Auch in diesem Fall muss der Arbeitgeber beweisen, dass der Arbeitnehmer unentschuldigt gefehlt hat.
Das Vortäuschen der AU ist ein (versuchter) Betrug zulasten des Arbeitgebers. Das stellt „an sich“ – vorbehaltlich einer Abwägung im Einzelfall – einen wichtigen Grund für eine fristlose (Verdachts-) Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB dar. Erst recht ist eine ordentliche Kündigung möglich.
Eine vorherige Abmahnung ist nicht erforderlich. Bei der Verdachtskündigung ist der Arbeitnehmer vor der Kündigung zu dem Vorwurf anzuhören.

Jan 2022
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